Videointerview mit Kassem Taher Saleh, Direktkandidat der Partei BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN zum Deutschen Bundestag 2021 im Wahlkreis Dresden I (WK 159)

1. Nennen Sie bitte kurz Ihr persönliches Schwerpunktthema

Mein Thema Nummer eins ist eine nachhaltige und ökologische Bau- und Wohnpolitik, zudem eine sozial gerechte Mietpolitik. Mein zweites Schwerpunktthema – als Mensch mit Fluchthintergrund – ist die Asylpolitik, wo der Mensch in den Vordergrund gestellt wird. Das heißt, wir brauchen dafür ein stärkeres Bleiberecht, und die Menschen brauchen eine Perpektive. Und mein drittes Thema ist der Kampf gegen den Rechtsextremismus und Rassismus in Dresden, Sachsen und in Deutschland.

2. Was muss aus Ihrer Sicht gegen die soziale Spaltung in der Gesellschaft getan werden und wie wollen Sie zur Generationengerechtigkeit beitragen?“

Wir brauchen dafür gesetzlich einen Mindestlohn von mindestens 12 €. Dadurch stärken wir die Perspektiven für die Menschen, die hier arbeiten. Die Menschen brauchen einen besseren Mindestlohn, der eben auch ihnen würdig ist.

3. Was muss getan werden, damit antidemokratische und gewaltbereite Kräfte zurückgedrängt werden?

Auf der Bundesebene brauchen wir ein Demokratie-Fördergesetz, wo Vereine, Initiativen und Organisationen genauso wie Ihre finanziell und strukturell gestärkt werden, damit sie eben den Kampf vor Ort führen können. Das heißt, Menschen brauchen den Zugang zu gesellschaftlichen Organisationen. Dafür brauchen sie die Gelder von Bundesebene, weil sie kennen die Lage vor Ort, sie kennen die Menschen vor Ort und können auch vor Ort ihnen helfen. Und da mir eben der Sport extrem geholfen hat, und ich weiß, was für eine Macht der Sport hat, glaube ich, dass man durch den Sport viel besser die zwischenmenschliche Ebene bespielen kann. Mir persönlich hat der Fußball extrem geholfen, mich hier in Sachsen zu Hause zu fühlen.

4. Wie stehen Sie zu der teils im politischen Diskurs nicht unüblichen Gleichsetzung von Rechts- und Linksextremismus?

Da gibt es meiner Meinung nach ganz verschiedene Ebenen. Ich würde nicht Rechtsextremismus und Linksextremismus auf eine Ebene stellen. Zunächst einmal stehe ich für eine Politik, die gewaltfrei ist. Ich verurteile Gewalt. Ich verurteile eben auch Menschen, die unser Grundgesetz nicht anerkennen, und dafür mache ich auch Politik.

5. Wo sehen Sie Versäumnisse in der Umwelt- und Klimapolitik, was muss dringend getan werden?

Da gibt es eine Menge. Als Bauingenieur, als Bauleiter stehe ich für eine ökologische und nachhaltige Baupolitik. Der Bausektor ist für über 30 Prozent der weltweiten CO2-Emission zuständig. Das heißt, da ist wiederum ein extrem großer Hebel, um gegen die Klimakrise anzugehen. Ebenfalls brauchen wir eine Stadt, die grün ist, die nachhaltig ist, um gegen das städtische Kleinklima vorzugehen. Wir merken, wie die Städte immer heißer werden. Wenn wir da einfach einen kleinen Beitrag leisten, indem wir die Gebäude mit einer Fassadenbegrünung, mit einer Dachbegrünung, vor allem bei Industriebauten versehen, steigern wir die Biodiversität in der Stadt, steigern wir auch das Wohlbefinden für uns Menschen, weil es ist kühler, angenehmer, und die Symbiose zwischen den Menschen, den Gebäuden und der Umwelt muss stärker in den politischen Fokus gedrängt werden.

Nun zu einem Thema, welches uns besonders interessiert

6. Sind Sie mit der derzeitigen Asylgesetzgebung zufrieden, und wenn nicht, was würden Sie ändern wollen?

Ganz direkt erstmal geantwortet: Nein, ich bin nicht zufrieden. Wir brauchen hier in Deutschland ein stärkeres Bleiberecht. Da fordere ich unsere Partei Bündnis 90 Die Grünen Einbürgerung mit der Geburt. Wer hier geboren ist, muss eben eben eingebürgert werden. Das ist das eine. Wir brauchen Sprachkurse zum Tag eins, unabhängig von der Bleibeperspektive und dem Herkunftsland. Ich habe selbst erfahren, Sprache ist Macht und schafft den Zugang zu Bildung, zu Arbeit und zu der Kultur und zu den Menschen. Wir brauchen auch Aufklärungsarbeit von der staatlichen Seite, das heißt die Menschen müssen ihre Rechte kennen, die Menschen müssen wissen, wie gestaltet sich eine Ausbildung: Es gibt eine Abendschule, es gibt Fachhochschulen man kann das Abitur machen, man kann eben auch Weiterbildungsmaßnahmen in Betracht ziehen. Und da stehe ich dafür, dass wir dafür Aufklärungsarbeit leisten für viele Menschen von Tag eins. Ebenfalls müssen die Menschen von Tag eins dezentral untergebracht werden. Das heißt, die dürfen nicht in einer Art ghettoisierten Form in einem zentralen Wohnheim zentralisiert untergebrachtwerden. Das schadet den Geflüchteten selbst, das schadet der Gesellschaft, weil er sich frustriert fühlt, weil er keine Perspektive hier in der Stadt hat, in dem Land hat.

Auf der europäischen Ebene muss das Dublin-3-Abkommen abgeschafft werden. Ich meine, uns ist es bewusst, dass es einfach nicht möglich ist, dass ein Mensch direkt als ersten Staat nach Deutschland kommen kann, weil wir geographisch nicht in der Lage sind. Wir liegen mitten in Europa, und die Voraussetzung dafür ist, dass man vorher ein anderes Land betreten hat. Das ist das eine.

Die Seenotrettungsaktionen müssen entkriminalisiert werden. Sie machen eigentlich die Aufgabe, was die Europäische Union zu machen hat, und zwar Menschenleben retten. Auf all diesen Ebenen möchte ich ran am besten als Teil des Innenausschuss, damit wir eine bunte, gerechte, offene und diverse Gesellschaft haben in Dresden, in Sachsen und in ganz Deutschland.

7. Wie stehen Sie zum System der AnkER – Zentren (AnkER steht ja für Ankunft – Entscheidung – Rückführung), in denen Geflüchtete, auch Kinder, mittlerweile bis zu drei Jahren interniert werden können? Würden Sie das abschaffen, umbauen oder ausbauen wollen?

Klares Statement von mir: Direkt abschaffen.

8. Was denken Sie über die privat organisierte Seenotrettung im Mittelmeer, bei der ja Dresden mit Mission Lifeline eine wichtige Rolle spielt?

Entkriminalisieren. Sofort. Wie schon gesagt: Sie rettten Leben, sie übernehmen Verantwortung, die die Europäische Union nicht übernimmt. Wir müssen ihnen auch staatlich helfen, v.a. strukturell und finanziell.

9. Sollte Dresden sich Ihrer Meinung nach zum „Sicheren Hafen“ erklären?

Definitives Ja. Dafür setze ich mich auch persönlich ein. Ich unterstütze die Petition in vollem Umfang und finde es echt traurig und teilweise auch fatal, dass der Stadtrat jetzt auch beim zweiten Anlauf es nicht geschafft hat, Dresden zum sicheren Hafen zu machen als eine der wenigen Hauptstädte in der gesamten Republik. Es ist wirklich eine Schande für unsere Stadt.

10. Wie stehen Sie zur Politik der EU an den Außengrenzen – inklusive illegaler Pushbacks, Frontex, Unterstützung lybischer Milizen und den Plänen für Lager außerhalb der EU?

Wie gesagt, das Dublin-3-Abkommen gehört abgeschafft. Das zumindest auf der gesetzlichen Ebene. Frontex hat die Aufgabe, die europäischen Außengrenzen zu sichern und nicht Menschen, die in der EU angekommen sind, gewalttätig wieder zurückzuführen. Das ist nicht die Aufgabe von Frontex. Und da müssen wir auch ran, wir brauchen neue Strukturen, wir brauchen eben auch transparente Gesetzmäßigkeiten für die Umorganisation.

11. Zurück zur innerdeutschen Politik: Finden Sie, dass Geflüchtete eine Chance bekommen sollten, sich ihren Aufenthaltstitel aktiv zu „erarbeiten“ – durch Arbeit, Spracherwerb, Ausbildung, Integration, oder sollten weiterhin ausreisepflichtige Menschen abgeschoben werden, unabhängig von Status, Verhalten, Alter oder bisheriger Dauer ihres Aufenthaltes hier?

Zunächst einmal: Abschiebungen zerstören Leben. Abschiebungen sind nicht nur ein psychischer Druck für die Menschen, sondern auch ein physischer Druck. Sie zerstören Perspektiven, und das ist nicht im Sinne unserer Politik. Das zum einen. Zum anderen müssen wir von staatlicher Seite den Rahmen setzen, damit die Menschen auch eine Perspektive haben. Ich meine, wer eine Duldung hat, ist sozusagen zum Sitzen verpflichtet. Er kann weder arbeiten, er hat weder Zugang zu Integrationskursen, zu Sprachkursen. Ich meine, man kann vielleicht zwei Tage nichts tun, eine Woche nichts tun, aber danach wird man frustriert, man leidet darunter, nicht nur emotional, sondern auch psychisch und physisch, und das ist nicht im Sinne unserer Politik. Was bedeutet das? Das bedeutet, da müssen wir Rahmen setzen. Das bedeutet Sprachkurse zum Tag eins, und zwar bitte unabhängig von der Bleibeperspektive, dem Herkunftsland oder auch dem Alter. Und Sprache schafft den Zugang zu allem. Ich hoffe, dass ist jetzt angekommen bei allen Menschen.

12. Ist aus Ihrer Sicht Migration ein Mittel, um dem Fachkräftemangel in Deutschland zu beheben? Sind hierzu aus Ihrer Sicht die Regeln und Gesetze ausreichend, oder müsste da etwas geändert werden? Wenn ja, was?

Ich bin ja wie gesagt Bauleiter und Bauingenieur und kenne die Baubranche recht gut. Wir haben in Sachsen die größte Handwerksdichte in ganz Deutschland. Und da sehen wir, wie das Handwerk einerseits Fachleute verliert, bzw. die bekommen keinen Nachwuchs ran, und anderseits hat uns der demographische Wandel direkt betroffen. Das Handwerk in Sachsen – sozusagen der Mittelstand in Sachsen – leidet darunter. Wenn die Menschen, die zu uns kommen, sozusagen eine Bleibeperspektive bekommen, sie sind bereit, sie möchten lernen, es fehlt leider an den richtigen Rahmensetzungen, die politisch nicht gemacht werden. Wichtig für ein Einwanderungsgesetz, wir, d.h. Bündnis 90, Die Grünen, wo wir auch die Schulabschlüsse anerkennen, wo wir die Studienabschlüsse anerkennen und auch die Möglichkeiten geben für die Menschen, hier Weiterbildungskurse wahrzunehmen. Ich meine, sie fördern ökonomisch einerseits das System, indem sie einfach Steuern zahlen wie jeder andere auch, aber auch gesellschaftlich, weil, ich meine mit einer vielfältigen, bunten Gesellschaft, die eben zusammen gestärkt ist, können wir Probleme viel besser lösen, weil je mehr Menschen mit einer verschiedenen Perspektive, mit einer verschiedenen Herangehensweise an einem Problem sitzen, dementsprechend ist die Lösung auch vielfältiger und besser und effektiver.

13. Erwarten Sie Migration aufgrund der Klimaveränderung? Sehen Sie hier Handlungsbedarf? Wenn ja, welchen?

Ja. Ich bin leider etwas enttäuscht darüber, dass wir nicht den Klimapass in unser Wahlprogramm reinverhandelt haben. Nichtsdestotrotz ist uns diese Problematik sehr bekannt und bewusst. Das sehen wir in den Sahararegionen, wo eben Menschen aufgrund der Hitze nicht in ihren eigentlichen Orten leben können, nicht in ihren eigentlichen Orten arbeiten können, und die sind ja verpflichtet einfach, weil sie einfach nicht können, umzuziehen. Da müssen wir eben ran, wir brauchen eben global müssen wir das 1,5 Grad-Ziel erreichen. Wir, Bündnisgrüne, möchten ein Klimaministerium, ein Klimaministerium mit einem ressortübergreifenden Vetorecht, das besagt, das eben ein Auge darauf hat, bei allen Gesetzesinitiativen, bei allen Gesetzen, die beschlossen werden, ob das 1,5 Grad-Ziel erreicht wird oder nicht.

Nun noch, abschließend, zwei kurze Fragen:

14. Was macht Ihnen momentan am meisten Sorgen?

Ganz klar die Klimakrise, also wir merken, dass die Klimakrise immer näher kommt, vor unseren eigenen Haustüren. Das merken wir nicht nur in Form von den Flutkatastrophen in Rheinland-Pfalz oder in Nordrheinwestfalen, sondern das hat hier unsere Haustür auch erreicht, auch hier in Sachsen. Das ist das eine. Das andere sind die überhitzten Städte. Wir merken das vor allem auch in Dresden, wo wir von Jahr zu Jahr immer Hitzerekorde brechen. Das ist das eine. Und ich finde, wir brauchen nicht nur auf der Bundesebene, sondern auch international ein besseres Bild von Sachsen. Sachsen: Es gibt Menschen, die sich hier tagtäglich gegen den Rechtsextremismus und Rassismus hier vor Ort einsetzen. Denen muss eine stärkere Stimme gegeben werden. Für die möchte ich auch da sein, für die mache ich auch Politik. Es schmerzt mich, wirklich, es schmerzt mich, wenn ich immer höre von außen heraus, dass Sachsen nur mit Rechtsextremen in Verbindung gebracht wird.

15. Was haben Sie sich für den Fall Ihrer Wahl in den Bundestag als Erstes vorgenommen?

Aufgrund meiner fachlichen Expertise möchte ich an die Mietproblematik rangehen. Wir in Dresden geben 32 Prozent unseres Nettoeinkommens für die Miete aus. Das heißt, fast ein Drittel unseres Nettoeinkommens geht für die Miete drauf. Für die Menschen, die ein Nettoeinkommen von 1000 € haben, die zahlen sogar über 50 Prozent ihres Nettoeinkommens an die Miete. Profiteurinnen und Profiteure sind immer wohlhabende und reiche Menschen. Das darf nicht sein. Da möchte ich eben für die Dresdnerinnen und Dresdner als erstes ran, einen bundesweiten Mietdeckel beschließen und eben auch kommunale Wohnungsunternehmen stärken. Sie müssen ein Big Player sein im Wohnungsmarkt.